Leserbrief von Borkumer Johannes Akkermann
Einer Legende nach verbringen die Borkumer Klaasohms das Jahr unter dem Großen Kaap, um dort Moppe zu backen und sich auf ihren großen Tag vorzubereiten. Diese Arbeitsplatzbeschreibung trifft ebenso auf das Fest selbst zu. „Wir sind 364 Tage im Jahr gute Gastgeber und diesen einen Tag reklamieren wir für uns.“ drückte das ein ehemaliger Oldermann des Vereins Borkumer Jungs in der BZ aus. Fast wortgleich findet sich diese Aussage in einer Dokumentation über den Sunneklaas auf Ameland wieder. Das Sunneklaasfest war im letzten Jahr medial ähnlich unter Druck geraten wie der Borkumer Klaasohm, als Reporter* eines TV-Senders in ihrem Auto gerammt und anschließend bedroht wurden. In den damals noch liberalen Niederlanden sah man darin einen Angriff auf die freie Presse und das Aufsehen war entsprechend groß. Befördert wurde die Aufregung dadurch, dass die Ameländer sich ähnlich wie die Borkumer weigerten, mit den Pressevertretern zu sprechen.
Mutmaßlich um das Fest zu retten, entschloss man sich in die Offensive zu gehen. In Zusammenarbeit mit dem Sender Omrop Fryslan wurde eine Dokumentation unter dem Titel „Leven en late leve“ veröffentlicht. Mit altem Filmmaterial und frischen Interviews versuchten die Insulaner, dem Land das Fest zu erklären und um Verständnis für den Ausschluss der Auswärtigen zu wecken.
Dass Schweigen im Informations- und Desinformationszeitalter keine gute Strategie ist, mussten nun auch die Borkumer schmerzlich erfahren. Der NDR-Bericht „Das Schweigen der Insel – Wenn Borkum Klaasohm feiert“ hat einen Shitstorm aller erster Güte ausgelöst. Selbst die Bekanntgabe des organisierenden Vereins, auf das Schlagen von Frauen künftig zu verzichten, konnte diese Wutbürgerwelle nicht stoppen. Dabei ließ die öffentliche Reaktion eine Vorstellung entstehen, als lebten auf Borkum nur chauvinistische Hinterwäldler, die von den Behörden gedeckt eine Nacht lang Jagd auf Frauen machten, um diese zu misshandeln. Zur Einordnung: An diesem Tag ziehen sieben kostümierte Männer durch eine vierstellige Anzahl von Menschen. Vier von ihnen sind Jugendliche im Alter von 14- 17 Jahren. In einer Art pubertärem Katz- und Mausspiel fangen sie zumeist Gleichaltrige. Das geschieht in der Regel einvernehmlich und die Verhaltensweisen befinden sich jenseits jeglicher strafrechtlichen Relevanz. Zudem findet der Umzug auf einer vorher kommunizierten Route mit festen Anlaufpunkten statt. Wer den Weg des Umzugs nicht kreuzt, kann unbehelligt seiner Wege gehen. Zum Abschluss des Festes springen die Klaasohms, angefeuert von Menschen aller Geschlechter von einer Litfaßsäule in der Stadtmitte und danach wird einträchtig in Kneipen und Privathäusern weitergefeiert. Die Gefahr, Opfer (sexualisierter) Gewalt zu werden, ist auf jedem Oktoberfest oder Karnevalsumzug ungleich höher als zu Klaasohm auf Borkum. Kein Journalist und kein Poster in den Sozialen Medien käme deswegen auf die Idee, die Besucher oder Veranstalter dieser Feste kollektiv zu verunglimpfen bzw. Verbote oder die Bereitschaftspolizei einzufordern.
Die NDR Reportage ist schlampig recherchiert und hebt von Beginn an auf das gewünschte Ergebnis ab. Unreflektiert wird das Entstehung-Narrativ des Festes als Rückeroberung der Insel durch die rückkehrenden Walfänger übernommen, weil es gut in den Begründungszusammenhang der Legitimation von Gewalt gegen Frauen passt. Die Walfänger kamen bis spätestens Mitte September aus dem Eismeer zurück und waren dankbar, dass ihre Frauen Borkum am Laufen gehalten haben. Warum hätten sie knapp drei Monate später ein Fest veranstalten sollen, um ihnen zu zeigen, wo der Bartel den Most holt? Borkum war Anfang des 19. Jahrhunderts eine streng reformierte Gemeinde mit rund 400 Einwohnern. Das Klaasohmfest war auf Veranstalterseite schon damals ein Fest junger Leute. Sitte, Anstand und einengende Moralvorstellungen dominierten das Alltagsleben.
Niemals hätten kostümierte Jugendliche gegen das vierte Gebot verstoßen und ihre Mütter bzw. die ihrer Altersgenossen geschlagen. Es war wohl eher so, dass der Klaasohmtag in einer äußerst prüden Umgebung die Gelegenheit bot, unbeaufsichtigt Kontakt mit dem anderen Geschlecht aufzunehmen. Das dürfte für beide Seiten einen gewissen Reiz gehabt haben und hat sich bis heute erhalten.
Das Klaasohmfest hat sich besonders im 19. Jahrhundert immer wieder gewandelt. Die Klaasohms kehrten zumeist in Privathäuser ein und hielten Zwiesprache mit den Bewohnern. Diese versuchten herauszufinden, wer unter den Helmen steckte. Das kann nur funktionieren, wenn sich die Beteiligten kennen. Dieser eigentliche Kern des identitätsbildenden Festes erklärt die Notwendigkeit der Abschottung gegenüber Auswärtigen. Zudem war Weihnachten als Fest der Bescherung noch unbekannt. Kinder und Jugendliche erhielten wie noch heute in den Niederlanden ihre Geschenke am Tag nach Klaasohm, dem Nikolaustag. Das alles hätten die investigativen Reporter des NDR herausfinden können, wenn sie nur gewollt hätten. In Österreich und Süddeutschland haben sie ohne Nachfrage der Aussage eines einzelnen Interessenvertreters Glauben geschenkt, dass dort alles in Ordnung und bestens geregelt sei. Mit nur ein wenig mehr Recherche wären sie auf ähnliche Thematiken wie auf Borkum gestoßen. Weil die mannigfaltigen Nikolaustraditionen in abgelegenen Regionen wahrscheinlich gleichen Ursprungs sind, haben sie in der Durchführung ähnliche Themen zu bearbeiten. Um es ganz klarzustellen: Wenn die Schilderungen der verpixelten Zeuginnen zutreffen, sind sie zu verurteilen und zu bestrafen. Gewaltanwendung gegen Frauen hat auf solchen Festen nichts verloren. Die Aussage eines einzigen E-Klaasohms über dessen Gefühlsleben während der Veranstaltung als allgemeingültig für alle Beteiligten darzustellen, ist dann doch to much! Dass aber seriöse Sender und Zeitungen von einer schlecht recherchierten Reportage ohne Nachfrage abkupfern und eine ganze Insel samt ihrer Bewohner den Medien und aufrechten Wutbürgern in den „Sozialen“ Medien zum Fraß vorwerfen, ist ein Tiefpunkt des Journalismus. Die damit einhergehenden Wut- und Ohnmachtsgefühle bei den Betroffenen erschüttern zumindest vor Ort das Vertrauen in die freie Presse.
*Mit der Nennung des generischen Maskulinums sind alle Geschlechter gemeint. Auf schriftliches Gendern wird verzichtet, weil nicht alle Medien die Texte in gegenderter Form annehmen und bei Übernahme Unleserlichkeiten und Sinnentstellungen entstehen.
Johannes Akkermann, Borkum